Ein Fotoprojekt aus dem Ruhrgebiet

Nokia - Chronolgie einer Standortschließung

Am 15. Januar 2008 stellt, aus Kostengründen, der finnische Handyhersteller die Handyproduktion in Deutschland ein. Betroffen sind 2300 Beschäftigte am Standort Bochum. Ein halbes Jahr später ist das Werk geschlossen – trotz Protestveranstaltungen mit tausenden Teilnehmern, vieler Solidaritätsbekundungen und Unterstützung aus Politik und Gesellschaft.

Einige Stationen der Werksschließung wurden filmisch begleitet. Entstanden ist daraus eine 10-minütige Dokumentation, die eingeleitet wird mit der Einweihung einer neuen Produktionshalle, im März 1997, durch den damaligen Oberbürgermeister Stüber und des Geschäftsführenden Direktor von Nokia, Jorma Ollila.

15. Januar

15. Januar  (im Film)
Nokia kündigt an, die Produktion mobiler Endgeräte in Deutschland Mitte 2008 einzustellen und den Standort Bochum aufzugeben. Das Unternehmen plant, die Produktion in andere Nokia-Werke in Europa zu verlagern. Oberbürgermeisterin Dr. Ottilie Scholz zeigt sich betroffen: “Dies ist eine schlimme Entscheidung, für Bochum, für die Region und für ganz NRW.” Gemeinsam mit der Wirtschaftsförderung Bochum sucht sie nun nach Lösungen für die mindestens 2.000 Mitarbeiter. NRW-Wirtschaftsministerin Christa Thoben sagt ihre Unterstützung zu bei der Entwicklung zukunftsorientierter Alternativen.

Am Tag nach der Ankündigung kam es, vor dem Nokia-Tor, zur ersten Großveranstaltung.

18. Januar

18. Januar  (im Film)
Pressekonferenz im Bochumer Rathaus mit Dr. Ottilie Scholz (Oberbürgermeisterin), Christa Thoben (Wirtschaftsministerin NRW), Gisela Achenbach (Betriebsratsvorsitzende Nokia GmbH) und Ulrike Kleinebrahm (Erste Bevollmächtigte der IG-Metall Bochum).

22. Januar

22. Januar  (im Film)
Über 15.000 Menschen gehen gegen die geplante Schließung des Nokia-Werkes in Riemke auf die Straße. Der Protestmarsch beginnt vor dem Werkstor und endet in einer Großkundgebung auf dem Riemker Markt. Unter den Teilnehmern der Großkundgebung sind Oberbürgermeister der Revier-Städte, Gewerkschaftler, Polizisten, Politiker, Professoren und Studenten der Ruhr-Uni, Bochumer Schüler, Mitarbeiter der Stadt und der Bogestra, von Ford Köln und VW Wolfsburg, von Hoesch, Thyssen-Krupp, Opel und der VfL. Die Kirchen lassen die Glocken läuten, Herbert Grönemeyer schickt den Nokia-Mitarbeitern einen Gruß.

05. Februar

05. Februar
Für den Verbleib des Nokia-Werks in Bochum finden Zuschauer des Schauspielhaus Bochum 1.400 gute Gründe. Zwei Wochen lang wurden bei Vorstellungen Karten mit dem Aufdruck “Nokia muss in Bochum bleiben, weil...” verteilt. 1.400 Gäste des Schauspielhauses haben aus Solidarität mit den Nokia-Mitarbeitern die Karten ausgefüllt. Oberbürgermeisterin Dr. Ottilie Scholz erhält im Beisein von Ulrike Kleinebrahm, Erste Bevollmächtigte der IG Metall Bochum, und Gisela Achenbach, Nokia-Betriebsratsvorsitzende, die Ergebnisse der Postkartenaktion. Jede der Postkarten ist persönlich an den Nokia-Vorstandsvorsitzenden Olli-Pekka Kallasvuo gerichtet. Dr. Ottilie Scholz wird flankierend einen Brief an Kallasvuo aufsetzen, in dem sie die Auswirkungen auf Bochum durch die Schließung des Standortes verdeutlicht.

10. Februar

10. Februar
Mehr als 6.000 Menschen bilden um das Nokia-Gelände in Bochum eine Menschenkette, um gegen die geplante Schließung des Werkes zu demonstrieren. Als Mahnung an die Unternehmensleitung entzünden sie Fackeln. Im “Ring of Fire” stehen neben vielen Nokianern und Bochumern auch Bundestagspräsident Dr. Norbert Lammert sowie Landesarbeitsminister Karl-Josef Laumann.

15. Februar

15. Februar  (im Film)
Ins Soli-Zelt an der Meesmannstraße 103 verlieren sich nur noch wenige. Keine TV-Übertragungswagen, die Feuer sind erloschen, die Blechtonnen erkaltet. Die Botschaft „Nokia muss bleiben“ auf Plakaten und Buttons ist inzwischen überholt. Das wissen die Bochumer, seit sie in Helsinki mit dem Management reden durften, dabei aber auf Granit bissen. Der Beschluss des Nokia-Aufsichtsrats am 28. Februar, der das Aus besiegeln wird, ist nur noch Formsache. Es geht nur noch darum, möglichst viel herauszuholen, bevor im Sommer die Tore geschlossen werden. Verhandlungen über Ersatzarbeitsplätze, Sozialplan, Abfindungen laufen an.

08. April

08. April
Der Sozialplan für die 2.300 Beschäftigten des Bochumer Nokia-Werkes steht. Arbeitnehmer und Geschäftsleitung einigen sich auf ein Volumen von 200 Millionen Euro. Davon entfallen 15 Millionen Euro auf eine Transfergesellschaft. Die restlichen 185 Millionen Euro sind für Abfindungen vorgesehen. Die jeweiligen Kündigungsfristen sollen mit der Werksschließung am 30. Juni beginnen. Sie belaufen sich auf bis zu sieben Monate. Danach gehen die Beschäftigten für maximal zwölf Monate in die Transfergesellschaft. Zwei Teilbereiche des Werks mit insgesamt 300 Beschäftigten sollen an zwei Firmen verkauft werden.

16. Mai

16. Mai
Im Bochumer Nokia-Werk wird die Produktion eingestellt. Ein Großteil der Belegschaft bekommt die schriftliche Freistellung überreicht. Bis zur offiziellen Werksschließung Ende Juni verbleiben noch wenige Nokianer im Werk und demontieren die Maschinen.

30. Juni

30. Juni
Das Nokia-Werk in Bochum schließt offiziell und endgültig. Die Produktion war bereits Mitte Mai eingestellt und nach Rumänien verlagert worden. Ein Großteil der 2.300 betroffenen Nokianer wechselt ab Juli in eine Transfergesellschaft.



Die Geschichte der Produktionsstätte in Bochum-Riemke

Graetz, SEL, Alcatel

Graetz, SEL, Alcatel
Die Produktionsstätte geht in seinen Anfängen auf das Unternehmen Graetz zurück. Es wurde als Graetz-Fernsehwerk IV von Erich Graetz im Jahre 1956 eröffnet. Das Werk bot 1200 Arbeitsplätze. Es wurden Fernsehgeräte und insbesondere Fernsehtruhen gefertigt. Der Standort verfügte über eine eigene Zugangsstelle zum Schienenpersonennahverkehr, den Haltepunkt Bochum Graetz.

Zu den Mitarbeitern zählte der Ingenieur Heinz Kaminski, der spätere Gründer der Sternwarte Bochum. Fritz Graetz verkaufte am 25. März 1961 sein Unternehmen an Standard Elektrik Lorenz (SEL), weil er in seiner Familie keinen Nachfolger fand.

Ende 1970 kam es bei Standard Elektrik Lorenz (SEL) zur Überproduktion, nur 600.000 von angestrebten 800.000 Farbfernsehgeräten konnten verkauft worden. Ende 1986 verkaufte man SEL an Alcatel.

Ära Nokia

Ära Nokia
Das Werk in Bochum kam im März 1988 zur finnischen Nokia, weil Nokia von SEL (Standard Elektrik Lorenz) die Bereiche Audio und Video und die Marken Schaub-Lorenz und Graetz erworben hatte.

Zunächst wurden Fernsehgeräte und SAT-Empfänger (d-box) weitergebaut. 1989 begann Nokia in Bochum Mobiltelefone zu produzieren. Ein vollautomatisiertes Hochregallager wurde errichtet. Das Unternehmen beteiligte sich 1993 finanziell an der Erneuerung der dann mit dem Namen Nokia-Bahn vermarkteten Linie auf Bahnstrecke Bochum–Gelsenkirchen. Der Bahnhaltepunkt in der Nähe des Werks hieß von 1993 bis 2009 offiziell Bochum NOKIA. 1998 wurde nach Gesprächen mit dem damaligen Ministerpräsidenten des Landes Nordrhein-Westfalen Wolfgang Clement das Werk erweitert. Das Richtfest (im Film) für die neue Nokia-Produktionshalle fand im März 1997 statt. Bis ins Jahr 2000 wurden noch Röhren-Bildschirme und Fernsehgeräte hergestellt.

Im Dezember 1999 wurde in Riemke der Grundstein für das 13.900 m² große Entwicklungszentrum an der Rensingstraße gelegt. In einem Metallzylinder wurden deutsche und finnische Münzen und ein Mobiltelefon eingelassen. 600 Mitarbeiter sollten hier zu den Bereichen Telematik und „Internetanschluss für das Auto“ Entwicklungen betreiben.

2001 wurden von den rund 3000 Arbeitsplätzen am Standort Bochum 341 Stellen gestrichen. Zugleich wurden Leiharbeiter eingestellt. Im Jahre 2005 wurden Stellen im Bereich Multimedia gestrichen.

Werksschließung Nokia 2008

Werksschließung Nokia 2008
Am 15. Januar 2008 gab Nokia die Absicht zur Schließung des Werkes in Bochum bekannt: aus Wettbewerbsgründen sollte die Produktion nach Rumänien verlegt werden. Nokia-Chef Olli-Pekka Kallasvuo nannte drei Gründe: Die Produktion mehrerer unterschiedlicher Modelle erfordere eine größere Flexibilität, die das Werk in Bochum nicht gewährleisten könne, betriebsnahe Zulieferer weigerten sich, nach Deutschland zu kommen und das Verhältnis von Kosten und Output in Bochum sei nachteilig. In Bochum würden nur etwa sechs Prozent der Nokia-Handys produziert, während rund 23 Prozent der direkten Lohnkosten in den Fabriken in Bochum anfielen.

Nokia beschäftigte in Bochum etwa 2300 festangestellte Mitarbeiter, von denen etwa 2000 arbeitslos wurden, und etwa 800 Leiharbeiter. Von der Werksschließung waren auch DHL sowie Zuliefererbetriebe betroffen. Die Arbeitsbedingungen im Werk waren sehr flexibel, Überstunden und Wochenendarbeit sowie Arbeit an Feiertagen waren selbstverständlich, ebenso ein Kürzertreten bei Mangel an Aufträgen.

Die Entscheidung wurde von Gewerkschaften, Parteien und der Landesregierung Nordrhein-Westfalen kritisiert.

In den Standort Bochum waren insgesamt 88 Millionen Euro öffentliche Fördergelder eingeflossen. Laut Nokia wurden alle Verpflichtungen erfüllt, die in Verbindung zu den aus den 1990er Jahren stammenden Subventionen auferlegt wurden. Seitens des Bundesministeriums für Wirtschaft und Technologie erklärte man, dass die Bundesregierung für Gespräche mit dem Unternehmen zur Verfügung stehe.

Das Betriebsergebnis in Bochum betrug laut einem Bericht von Capital 134 Millionen Euro Gewinn (pro Mitarbeiter 90.000 Euro) im Jahre 2007. Nokia wies diese Angaben als irreführend zurück.

Im Frühjahr 2008 verständigten sich Nokia und Betriebsrat auf einen Sozialplan mit einem Volumen von 200 Millionen Euro: 185 Millionen Euro für Abfindungen und 15 Millionen Euro für eine Transfergesellschaft. Die noch knapp 2300 Mitarbeiter wurden zum 1. Mai 2008 freigestellt und erhielten durchschnittlich eine Abfindung von rund 80.000 Euro. Das Werk wurde zum 30. Juni 2008 geschlossen.

Im Februar 2008 begann Nokia mit der Produktion im Nokia-Werk Cluj in Jucu im Kreis Cluj mit etwa 2200 Beschäftigen, das 2011 wieder geschlossen wurde.

Dank an:
Stadt Bochum, Presse- und Informationsamt, für die Aufnahmen aus der Bochumer Jahresschau 1997.

Hayat TV für das Filmmaterial vom 16., 18. und 22. Januar 2008.